NUR EIN SCHICKSAL VON VIELEN

Piep. Piep. Piep. Mein Wecker klingelt. Verschlafen drücke ich auf den „Aus“-Knopf. Leider steht auf der Uhranzeige aber nicht sieben oder acht Uhr morgens, sondern knallharte 4:00 Uhr morgens. Eine nette Zeit um aufzustehen; aber was tut man nicht alles. Schnell duschen, noch einen Kaffee trinken und die Tasche packen, und dann treffe ich auch schon die Sozialarbeiterin und einen der Jungen mit denen ich arbeite draußen vor der Tür.

Heute sind zunächst seine Gerichtsverhandlung und später der Hausbesuch angesetzt. Das wird aber nicht das Einzige sein, was ich heute erlebe. Wir nehmen den Jeepney zur Bushaltestelle und steigen ein, erstaunlicherweise ist der Bus auch um diese Uhrzeit bis auf den letzten Platz gefüllt. Auf geht’s durch die enge Stadt auf den Highway und dann immer weiter weg vom Stadtleben.
Während es draußen immer heller wird und drinnen mich die Klimaanlage zum Zittern bringt, denke ich über die letzten drei Monate nach, die ich nun schon auf den Philippinen bin. Die ersten Wochen waren anstrengend, laut, bilderreich und voller neuer Eindrücke. Mittlerweile habe ich mich schon fast gänzlich eingelebt, mir geht’s hier gut. Ich mag die Arbeit mit den Jungen und die Hausbesuche und Gerichtsverhandlungen geben mir dann noch einmal einen intensiveren Einblick in ihre Lebenssituationen.
Ich schrecke aus meinem Halbschlaf auf, als der Bus über eines der vielen Schlaglöcher auf der Straße huckelt. „Von hier nur noch 30 Minuten“, sagt mir der Junge. Ich sehe die Anspannung in seinen Augen, wie würde ich mich wohl vor einer Gerichtsverhandlung verhalten? Wahrscheinlich genauso. Als wir aussteigen fühle ich mich, als wäre ich aus dem Eisschrank direkt in die Sauna gestoßen worden. Es ist noch am Morgen, aber schon so heiß und drückend, dass mir der Schweiß auf der Stirn steht. Zu dritt nehmen wir ein Tricycle bis direkt vor das Gerichtsgebäude. Gerichtsgebäude ist leicht gesagt, denn es sieht eher aus wie ein heruntergekommenes altes Haus. Wir gehen hinein und setzen uns auf eine Bank zum Warten. An den Wänden gibt es als bildhafte Elemente leider nur massenhaft Spinnenweben und Dreck, jedoch hängen über den Türen zu den Gerichtssälen schon die ersten Weihnachtskugeln und verschönern den Ort wenigstens ein bisschen mit rotem Glanz.  „Es gibt einen Richter hier, der ständig von Saal zu Saal pendelt. Das dauert immer schrecklich lange“, erklärt mir die Sozialarbeiterin. Wenn das so ist, denke ich mir, dass pro Tag wohl nur einige Verhandlungen für ihn anstehen. Falsch gedacht: allein heute sind 30 Fälle zu verhandeln. Wie soll das denn bitte klappen mit nur einem Richter? Heißt dann wohl erst mal warten.
Wir haben Glück: der Mann, dessen Handy der Junge gestohlen hat, erscheint nicht. Der Fall wird auf Mitte November verschoben und wenn dann der Mann ebenfalls nicht erscheint, wird der Fall beendet und es gibt keine weiteren Verhandlungen.
Nach diesem ersten Erfolg des Tages, fahren wir zum Haus des Jungen. Auch der Begriff Haus ist in diesem Fall nicht vergleichbar mit einem Haus, wie wir es kennen. Wir halten vor einer kleinen Straße und laufen den winzigen Weg entlang, vorbei an einer Frau die ihre Wäsche mit den Händen wäscht, drei kleinen Kindern, die mich erstaunt anblicken und einem Straßenhund, der faul in der Sonne liegt.
„Hier ist es! Das ist mein Haus. Wie findest du es?“ fragt mich der Junge. Da ich erst mal verstehen muss, dass die kleine Tür direkt vor mir in das Haus führt, kann ich gar nicht sofort antworten. Als ich eintrete, werde ich herzlich von seiner Mutter begrüßt und wir setzen uns auf herbeigebrachte Stühle. Eine Hausführung erübrigt sich, da es gerade mal zwei Zimmer gibt. Ich schätze das ganze Haus auf ca. 3×5 Meter. Wir sitzen da, wo die Familie nachts auf dem Boden schläft, zu meiner linken befindet sich noch die winzige Kochnische und dann gibt es noch eine Toilette. Ich weiß nicht recht wo ich meine Beine abstellen soll, da es wirklich alles sehr klein ist. Trotzdem schaffen wir es irgendwie, einen Tisch in das Haus zu stellen und gemeinsam zu essen. Es ist super schön zu sehen, wie der Junge es genießt seine Familie zu sehen und seine kleine Nichte im Arm zu halten. Da ich leider noch nicht ganz flüssig in Tagalog bin, kann ich mich nur etwas am Gespräch beteiligen, das die Sozialarbeiterin mit der Mutter führt.
Nachdem mir der Junge seine Nachbarschaft und die Umgebung gezeigt hat und ich lilafarbenes Straßeneis gegessen habe, müssen wir auch schon wieder los. Der Abschied ist leider nicht ganz so herzlich. Die Familienverhältnisse sind hier auch generell unterschiedlich und dementsprechend auch der Abschied eher kontakt- und wortlos.
Er hat zwei Verbrechen begangen

„Ich will dir etwas zeigen, wenn du möchtest.“
„Was denn?“ frage ich.
„Das Gefängnis in dem ich drei Monate saß.“

Damit hatte ich nicht gerechnet, aber ich sage nicht nein. Was wird mich erwarten? Ich wusste ja einiges über die philippinischen Gefängnisse und hatte auch schon eins in Manila besucht, trotzdem war ich gespannt, was mich nun erwartete. Wir fahren zur Polizeistation und nach einer kurzen Durchsuchung durch Polizisten führt mich der Junge durch das große Gebäude in den Hinterhof.
Das erste, was ich sehe, ist ein an seinem Schwanz angebundener Affe, der wild auf einem Ast auf und ab springt. Der Junge redet mit den Wächtern, die ihn noch von seiner Inhaftierung kennen und lassen uns schließlich durch. Rechts sehe ich eine Zelle, in der zwei Frauen auf dem Boden hocken und mich gleichgültig anblicken. Der Junge führt mich auf einem kleinen Weg zu der Zelle für Männer und ich kann meinen Augen kaum trauen. Die Zelle ist maximal 8×4 Meter groß und ist überfüllt mit auf Pappe sitzenden Männern. Als der Wächter mich sieht, ruft er irgendetwas auf Tagalog und in weniger als fünf Sekunden stehen alle Männer in Reih und Glied vor mir. Ich versuche nur zu sagen, dass sie nicht wegen mir aufstehen müssen und sich wieder hinsetzen könnten, aber sie bleiben wie angewurzelt stehen. Die Wächter begrüßen uns und fragen mich, was ich denn hier mache. Ich erkläre, warum ich auf den Philippinen bin und was ich z.B. mit dem Jungen für Aktivitäten bei PREDA mache, wie Englisch- oder Computerunterricht. Sie sind froh zu sehen, was aus dem Jungen geworden ist und es herrscht eine entspannte Atmosphäre. Ich scheue mich nicht davor mit den Insassen zu reden, die direkt vor den Gitterstäben stehen und frage sie, weshalb sie inhaftiert sind. „Einige haben gestohlen oder einen Raubüberfall gemacht. Aber die meisten sind Mörder oder Vergewaltiger.“ Mir wird etwas mulmig, ich lasse es mir aber nicht anmerken. 28 Augenpaare starren mich aus der Zelle an, ihnen ist Müdigkeit und Gleichgültigkeit ins Gesicht geschrieben. Plötzlich schreit der Wächter wieder etwas und ich sehe, wie ein junger Mann nach vorne vor mich tritt.
Ich sehe ihm in seine Augen und entdecke die Schminke in seinem Gesicht und die weibliche Kleidung. Völlig verängstigt blickt der Mann lieber in die Ecke, als nach vorne zu mir.
„Weißt du, was er für Verbrechen begangen hat?“ fragt mich der Wächter.
„Nein, keine Ahnung. Was hat er getan?“ frage ich zurück.
„Nun ja, er hat zwei Verbrechen begangen. Erstens: er ist schwul. Und dann hat er noch mehrmals gestohlen,“ antwortet er.
Es dauert bis ich antworten kann. „Ja, wissen Sie, es ist mir egal, ob er homosexuell ist oder nicht, das ist kein Verbrechen.“ Der Mann sagt nichts mehr und ich wende mich dem Mann hinter Gittern zu. Er spricht nicht viel Englisch, aber ich bekomme heraus, dass er 19 Jahre alt ist. Ihm steht tiefe Verunsicherung und Verängstigung ins Gesicht geschrieben und schließlich verschwindet er wieder in die hinterste Ecke der Zelle.

Bemerkenswerterweise wünschen uns die Insassen noch alles Gute und eine angenehme Heimfahrt bevor wir gehen, sie scheinen sehr froh über den Besuch gewesen zu sein.
Als ich aus dem Gebäude trete, brennt die Sonne sehr heiß. Ich blicke in das Gesicht des Jungen und sehe ich wie die Erinnerungen an ihm vorbeirauschen, in zwei Monaten Gefängnis kann einiges passieren.
„Jetzt kannst du dir vorstellen, was jede Nacht mit dem 19-jährigen Jungen passiert oder was mit den Preda-Jungs passiert ist“, sagt die Sozialarbeiterin. Und ja, das kann ich jetzt. Das Gesetz verbietet es Minderjährige mit Erwachsenen zusammen einzusperren und auch wenn der Junge schon volljährig ist, nützt ihm das gar nichts.
Auf der Rückfahrt im Bus erzählt mir der Junge noch einige unglaubliche Geschichten, die ihm dort im Gefängnis widerfahren sind. Ihm wurde zum Beispiel die Schutzweste des Polizisten angelegt und aus einigen Metern Entfernung auf ihn geschossen. Oder ihm wurden die scharfen Kerne einer Chilischote unter die Augen gerieben. Oder Zigaretten in seinem Gesicht ausgedrückt. Alles zum Vergnügen der Wärter und älteren Insassen.
Und das sind nur einige Beispiele.
Wir treten unseren Heimweg an und als ich nun so dasitze und die Landschaft wieder an dem Bus vorbei rauscht, denke ich über all das nach und versuche mir vorzustellen, wie ich so ein Leben gemeistert hätte. Sechs Jahre lang hat dieser Junge auf den Straßen der großen Städte rund um Manila gelebt, mal hier mal dort gearbeitet und die Straße sein Bett genannt. Danach war er in einen kleinen Überfall verwickelt und ist schließlich im Gefängnis gelandet, woran er sich wohl noch sein Leben lang erinnern wird. Während die massigen Berge stumm an mir vorbeiziehen, komme ich zu dem Schluss, dass ich mir so etwas niemals vorstellen kann. Ich weiß nur, dass diese Jungs schon einiges erlebt und gesehen haben, wovon ich mir nur Vorstellungen mache. Und doch ist es bittere Realität.

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